Meinung

Schallenbergs Perspektiven: # 9 Was ist ein Papst? Leo XIV. als Brückenbauer der Menschheit
Es braucht beides: die Gerechtigkeit des Staates und die Sakramente der Kirche. Und es braucht eine Brücke von diesem zu jenem, von der Menschenwürde zur Liebenswürdigkeit eines jeden Menschen in den Augen Gottes. Und das ist das Programm, das sich Papst Leo XIV. mit der Wahl seines Namens selbst gegeben hat.

Prof. Dr. Peter Schallenberg.
Foto: Privat/Epoch Times
Die Wahl des neuen Papstes und seine offizielle Verkündigung von der Loggia des Petersdoms herab mit der Bekanntgabe des Papstnamens ließ wieder einmal auf den offiziellen Titel des Papstes aufmerksam werden: Pontifex Maximus – oberster Brückenbauer.
Es ist der Titel des altrömischen heidnischen obersten Priesters des Jupiter, den zuerst wohl Papst Leo der Große (440–461) offiziell für sich und seine Nachfolger in Anspruch nahm und den die Päpste seitdem führen.
Papst Leo I. – der oberste Brückenbauer
Der Name erinnert an die erste Stelle der Besiedlung Roms, die man heute noch unweit der Tiberinsel sieht, beim Forum Boarium, dem Rindermarkt, gegenüber von Trastevere, wo eine Furt durch den Tiber angelegt war und später eine erste hölzerne Brücke, die im Schutz eines Tempels des obersten Gottes Jupiter stand und von dessen Priestern instand gehalten wurde. Sicherung der Wege zueinander und des Handels verband sich mit der Anrufung der Götter und der Bitte um himmlischen Segen; irdische Brücken und Brücken zu den Göttern waren gleichermaßen wichtig; Sicherheit und Frieden wurden durch die Brücke ermöglicht. Es war Aufgabe der Priester, im Namen der Götter für diese lebenswichtige Brücke zu sorgen.
Naheliegend war es für Papst Leo den Großen und die Päpste seitdem, diesen Anspruch und diese Pflicht zum Brückenbau zu übernehmen. Als Stellvertreter Christi und Nachfolger des Petrus sorgen die Päpste nach eigenem Selbstverständnis an der Spitze der Kirche für den Brückenbau zum Himmel: durch die Spendung der Sakramente, durch Lehre und Predigt, durch die Leitung der Kirche auf Erden, aber auch für den Frieden der gesamten Menschheit.
Denn ein Papst ist nicht einfach nur oberster Chef einer Religionsgemeinschaft: Da nach christlichem Glauben jeder Mensch Geschöpf Gottes mit unermesslicher Würde und unsterblicher Seele ist, stehen Kirche und Papst im Dienst an Menschheit und Mensch, im Dienst am ewigen Glück jedes Menschen.
Papst Leo IV. – eine gewaltige Mauer aus Ziegelsteinen
Ein zweites Bild kommt zum Brückenbau hinzu. Im Jahre 847 erbaute Papst Leo IV., ein streitbarer Vorgänger des neuen Papstes Leo XIV., gegen die ständig in Rom und Latium brandschatzenden Sarazenen die Leoninische Mauer, die heute noch sichtbar ist – eine gewaltige Brandmauer um den Petersdom und mehr oder minder das Gebiet des heutigen Vatikanstaates abgrenzend. Eine Absicherung gegen feindliche Überfälle und ein Schutz für den nach Jerusalem und der Grabeskirche heiligsten Ort der Christenheit, das Grab des Apostelfürsten Petrus, dessen Nachfolger als Stellvertreter Christi auf Erden der jeweilige Papst in Rom ist.
Noch heute ist diese gewaltige Mauer aus Ziegelsteinen rings um St. Peter und die vatikanischen Gärten zu sehen, und fast ist man versucht zu denken an das am Anfang der Bibel geschilderte Paradies, dessen Name sich bekanntlich aus der altpersischen Sprache herleitet und im 7. Jahrhundert vor Christus als Lehnwort „paradeisos“ ins Griechische wanderte: „para“ heißt herum, und „daeza“ heißt Ziegel – eine ummauerte Fläche zur Sicherung des Überlebens. Die uralte Idee der Wüstenvölker ist: Wenn es in einer todbringenden Wüste lebensspendendes Wasser und eine Oase gibt, dann müssen Wasser und Oase künstlich gegen die tödliche Versandung geschützt werden. Wie? Mit einer Mauer aus gebrannten Ziegeln!
Nur durch solch eine Art Brandmauer lassen sich Versandung und Verödung, verheerender Flächenbrand todbringender Vernichtung, ja eigentlich der frühe Tod durch Verdursten, verhindern.
Wer aber schützt vor dem Verdursten der Seele, der inneren Verzweiflung, von der der dänische Philosoph Søren Kierkegaard im 19. Jahrhundert als der schleichenden „Krankheit zum Tode“ schrieb? Vor dieser seelischen tödlichen Krankheit schützt allein das Wasser des Lebens und der Liebe: von sterblichen Menschen, freilich, mehr noch und nachhaltiger vom unsterblichen ewigen Gott.
Eine doppelte Mauer: Die Gerechtigkeit des Staates und die Sakramente der Kirche
Und wie wird dieses Wasser der Liebe geschützt vor der alltäglichen und anödenden Versandung geistiger Anspruchslosigkeit und zunehmender bequemer Suhlung bei den Schweinen, fernab vom Vaterhaus der verlorenen Liebe? Es braucht – so das Christentum und seine Bibel – eine geistige Mauer aus lebendiger Erinnerung an das Vaterhaus, die zum Aufbruch weg von den Schweinen inspiriert, eine Mauer aus Gebet und Nächstenliebe und tätiger Gottesverehrung; eine Mauer aus Gewissenserforschung und Tröstung durch die Sakramente der Kirche.
Kurzum: Es braucht die Mühe einer „zweiten Natur“ des Menschen, so sagen die frühen Kirchenväter (und nicht zuletzt auch der große Vorgänger des jetzigen Papstes, Leo der Große, mehrfach), um die Mängelnatur des Menschen als nackter und nichtsnutziger Menschenaffe, genauer gesagt als borstiger Bonobo-Schimpanse, zu ergänzen und so den entscheidenden Schritt vom bloßen langen Überleben zum wahrhaft guten Leben zu ermöglichen.
„Christ, erkenne Deine Würde! Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden, kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und lebe nicht unter Deiner Würde!“ So predigt Papst Leo der Große an einem Weihnachtsfest.
Wer den Menschen in seiner Würde erhalten und zur Entfaltung seiner liebenden Seele führen will, der muss ihn schützen und bewahren und den Quell des Lebens und der Liebe in seiner Seele frisch und lebendig erhalten. Und dazu braucht es eigentlich eine doppelte Mauer – eine erste und zunächst noch minimale Mauer der staatlichen Gerechtigkeit und des Gesetzes gegen die Verletzung bürgerlicher Menschenrechte und eine zweite ungleich anspruchsvollere sakramentale Mauer der Liebe und der Barmherzigkeit gegen die Verletzung der menschlichen Seele.
Sakramente wollen ja das sein: Eine himmlische Mauer gegen die Lieblosigkeit durch das von Gott gestiftete Handeln der Kirche. Und das meinte tatsächlich Papst Leo XIV. mit seiner Kritik am amerikanischen Vizepräsidenten JD Vance und dessen Äußerung zum augustinischen „ordo amoris“ mit einer angeblichen doppelten Art von Nächsten- und Fernstenliebe: Der Samariter hilft dem Menschen im Straßengraben tatsächlich unabhängig von jeder Volkszugehörigkeit. Aber das heißt natürlich nicht, dass die äußere minimale staatliche Mauer der Menschenrechte nicht anders konstruiert sein kann als die innere Mauer der göttlichen und menschlichen Liebe: Hier gilt das Äußerste an Mühe und an Zumutung! Denn: Wer an Gottes Natur teilhat, gibt alles und weit mehr als irgendein Staat! Und zieht die leoninischen Mauern als Brandmauern gegen jede Menschenverachtung so weit wie möglich!
Papst Leo XIII. – die moderne katholische Soziallehre
Viel später wird einer der unmittelbaren Vorgänger des jetzigen Papstes Leo XIV., nämlich Papst Leo XIII. (1878–1903), den Brückenbau und den Mauerbau in einer großartigen Soziallehre und in politischer Tätigkeit entfalten. Er gilt als erster moderner Papst, der nach eigener Aussage aus einem seiner Briefe den „Weltkreis täglich von Verderben bringenden Irrtümern befreien“ wollte, von Irrtümern über den Menschen in materialistischer und modernistischer – in der damaligen Sprache Leo XIII.: amerikanistischen – Hinsicht, die im Menschen keine Person mit unsterblicher, von Gott berufener Seele sehen, sondern nur Zellhaufen oder funktionierende Materie.
So veröffentlicht Papst Leo XIII. 1891 neben und unter vielen wegweisenden Enzykliken auch die erste Sozialenzyklika „Rerum novarum“ und begründet damit die moderne katholische Soziallehre; so treibt er die Missionen – unter anderem der Augustinermönche, denen der jetzige Papst Leo XIV. angehört – voran; so weiht er die Menschheit dem Heiligsten Herzen Jesu; so beendet er den Kulturkampf mit Bismarck und vermittelt im Karolinenkonflikt zwischen Spanien und Deutschland und weitet überhaupt die politische Friedenstätigkeit des Heiligen Stuhles aus; so veröffentlicht er schließlich auch Enzykliken zum fruchtbaren Verhältnis von Kirche und Staat.
Immer schaut Papst Leo XIII. am Ende des 19. Jahrhunderts auf die unterschiedlichen Aufgaben von Kirche und Staat: Die Kirche soll die Seelen zur Erkenntnis der Liebe Gottes führen; der Staat soll die Menschen zum gerechten Zusammenleben auf der Grundlage der Menschenrechte führen. Beides ist vom Ende, von der Ewigkeit Gottes her gesehen, nicht gleich wichtig, wie schon der heidnische Philosoph Sokrates wusste, als er lehrte: „Denn das Sterben an sich fürchtet niemand, er müsste denn keine Spur von Verstand und Mannhaftigkeit in sich haben, aber das Unrechttun fürchtet er; denn dass die Seele übervoll von Frevel in den Hades kommt, das ist das Größte aller Übel.“
Was zählt schon langes Leben ohne Gutheit? Aber wie sehr wiegt Gutheit ein scheinbar zu kurzes Leben auf? Das lange und angenehme Überleben (das der Staat fördern soll) ist nur sinnvoll, wenn es einen guten Inhalt und ein vollkommenes Ziel hat (das die Kirche vor Augen stellt). Und daher braucht es beides: die Gerechtigkeit des Staates und die Sakramente der Kirche. Und es braucht eine Brücke von diesem zu jenem, von der Menschenwürde zur Liebenswürdigkeit eines jeden Menschen in den Augen Gottes. Und das ist das Programm, das sich Papst Leo XIV. mit der Wahl seines Namens selbst gegeben hat.
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.
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