
Schärfere Kontrollen: Merkels Vermächtnis der offenen Grenzen endgültig beendet?
Migration, Wirtschaft sowie Frieden und Freiheit – das sind die Themen, mit denen sich die Regierung Merz als erstes beschäftigen will. Der neue Innenminister Alexander Dobrindt macht an den Binnengrenzen offenbar schon Nägel mit Köpfen. Ob eine strengere Migrationslinie juristisch haltbar ist, bleibt umstritten.

Das Archivbild zeigt den neuen Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, Alexander Dobrindt (CSU) bei einem früheren Auftritt vor der Presse.
Foto: Michael Kappeler/dpa
Am ersten vollständigen Arbeitstag der neuen Bundesregierung deutet sich tatsächlich eine Migrationswende an. Der neue Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat eine Anweisung des früheren Amtsinhabers Thomas de Maizière aus dem Jahr 2015 am 7. Mai schriftlich außer Kraft gesetzt, nach der Asylbegehrenden auch ohne Papiere Einlass nach Deutschland zu gewähren sei. De Maizière (CDU) hatte die Weisung seinerzeit auf Wunsch von Kanzlerin Angela Merkel erteilt – die Flüchtlingskrise nahm ihren Lauf.
Dobrindt habe die Bundespolizei zudem mündlich angewiesen, sämtlichen illegalen Migranten die Einreise nach Deutschland zu verweigern. Die 11.000 bisherigen Bundesbeamten würden von bis zu 3.000 weiteren Kräften „Schritt für Schritt“ unterstützt.
„Prozess“ in Abstimmung mit den Nachbarstaaten
Der Oberbayer hatte am vergangenen Sonntag im „Bericht aus Berlin“ der ARD (Video) mehr Grenzkontrollen und Zurückweisungen versprochen. „Das Signal werden wir deutlich verstärken, um auch die Wirkung zu verstärken“, so Dobrindt. Der „Prozess“ sei mit den Nachbarländern schon besprochen worden, werde aber noch weiter diskutiert. Bei „vulnerablen Gruppen“ werde man zunächst nur „in einigen Fällen“ durchgreifen.
Im Vorfeld geäußerte Bedenken der Nachbarregierungen hatte Dobrindt in der ARD vom Tisch gewischt: „Wir schließen keine Grenzen, wir verursachen keine kilometerlangen Staus, sondern wir machen das Notwendige, um die irreguläre Migration, die illegale Migration zurückzudrängen.“ Das sei auch im Interesse der Nachbarn.
Frankreich zuversichtlich, Polen besorgt
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron begrüßte den neuen deutschen Migrationskurs: „Wir wollen unsere Grenzen schützen. Das ist ein ganz wichtiges Ziel für uns beide“, so Macron am Rande des Antrittsbesuches des neuen Kanzlers Friedrich Merz (CDU). In Polen stieß die Nachricht dagegen auf wenig Begeisterung.
Die Epoch Times hatte schon am Morgen beim BMI unter anderem nachgefragt, auf welcher rechtlichen Grundlage das Ministerium seine neue Linie für zulässig hält, wie Zurückweisungen von Asylantragstellern in der Praxis gelingen und für welche vulnerablen Gruppen Ausnahmen gelten sollen. Sobald uns Antworten vorliegen, werden wir darüber berichten.
Faesers Prüfbericht über Drittstaatenlösung mit verhaltenem Fazit
Dobrindts Vorgängerin Nancy Faeser (SPD) hatte am 4. Mai einen Abschlussbericht (PDF) vorgelegt, der sich mit der Frage beschäftigte, „ob die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Transit- oder Drittstaaten erfolgen“ könnte.
Der Tenor: Abgesehen vom Erfordernis teils umfangreicher Änderungen im nationalen sowie im EU-Recht bestehe immer noch die Unwilligkeit von Drittstaaten, über Kooperationen auch nur zu verhandeln. Zudem erscheine die Steuerungswirkung „ungewiss“. Alles andere liege in der Hand einer neuen Regierung.
Neuer Kanzler voller Tatendrang
Merz hatte am Abend des 6. Mai in einem Interview mit dem ZDF zu verstehen gegeben, dass er die Migrations- und die Wirtschaftskrise als drängendste Herausforderungen betrachte. Als größte Aufgabe sehe er jedoch die Bewahrung von Frieden und Freiheit, da diese in Deutschland „so ernsthaft bedroht“ seien wie selten zuvor. Auch in diesem Punkt müsse die Regierung „liefern“.
Es gehe für ihn auch darum, Mehrheiten im Parlament und auch im Kabinett zu organisieren. Er selbst traue sich das zu, zumal „auf beiden Seiten, der Union wie der SPD, ein wirklich richtig gutes, interessantes, neues Bundeskabinett“ vorhanden sei.
„Wir wissen, dass wir gut regieren müssen, damit die Probleme unseres Landes gelöst werden“, so Merz. Ab sofort müsse und wolle er jedenfalls der „Bundeskanzler für ganz Deutschland“ sein (Video auf „ZDF.de“).
Merz schon im Hinblick auf EU unterwegs
Merz selbst reiste am Morgen des 7. Mai in Begleitung seines Außenministers Johann Wadephul (CDU) zunächst nach Frankreich, im Anschluss nach Polen, um sich mit den Regierungschefs zu treffen. Die Gespräche sollen sich nicht nur um irreguläre Migration, sondern auch um einen möglicherweise neuen Kurs der EU gegenüber der US-Regierung und um den Ukraine-Krieg drehen.
Am 6. Mai hatte Merz die Wahl zum Kanzler erst im zweiten Wahldurchgang geschafft.
Als Kanzlerkandidat hatte Merz am 23. Januar unter dem Eindruck der tödlichen Messerattacke von Aschaffenburg angekündigt, im Fall seiner Wahl schon am ersten Tag seiner Amtszeit das Bundesinnenministerium (BMI) „im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers“ anzuweisen, „die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen“, selbst gegenüber „Personen mit Schutzanspruch“. Merz erklärte das Vorhaben damals als Teil seines Fünf-Punkte-Programms für eine „Migrationswende“.
EU-Recht sieht Asylverfahren zwingend vor
Juristischer Streit im großen Stil scheint nun allerdings programmiert. Das EU-Recht sieht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nämlich grundsätzlich keine Möglichkeit vor, Schutz suchende Ausländer, die innerhalb der EU eine Binnengrenze überschreiten, zurückzuweisen.
Jeder Ausländer, der seinen Wunsch auf Asyl artikuliert, besitzt nach einem EuGH-Urteil vom 21. September 2023 (Az. C-143/22 /ADDE, PDF) prinzipiell einen Anspruch auf individuelle Prüfung seines Falles und der Frage, welches EU-Land für ihn zuständig ist. In Deutschland obliegen diese Aufgaben gemäß der sogenannten Dublin-III-Verordnung (PDF) dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hatte am 15. Oktober 2024 sogar die Praxis des „Seehofer-Deals“ aus dem Jahr 2018 für rechtswidrig erklärt (Az: 13337/19, PDF). Das deutsch-griechische Abkommen betraf Ausländer, die via Griechenland illegal nach Deutschland gelangten. Sie sollten nach Vorstellung des früheren BMI-Chefs Horst Seehofer (CSU) innerhalb von 48 Stunden ohne Asylverfahren zurück nach Hellas geschickt werden. Sofern dort kein ordentliches Asylverfahren garantiert sei, widerspreche das der Europäischen Menschenrechtskonvention, argumentiert der EGMR vor einem halben Jahr.
Der Umgang mit Asylbewerbern, die das EU-Territorium über Griechenland betreten und später nach Deutschland weiterreisen, beschäftigt die Gerichte immer wieder.
Das EU-Recht genießt im Fall eines Konflikts zu einem nationalen Recht ohnehin eine Vorrangstellung. „Wenn dies nicht der Fall wäre, könnten die Mitgliedstaaten ihr nationales Recht ganz einfach dem Primär- bzw. Sekundärrecht der EU vorziehen, wodurch die Umsetzung der EU-Politik undurchführbar wäre“, heißt es zur Begründung auf der EU-Website.
Innerhalb der EU-Verträge taucht das Vorrangprinzip zwar nicht als eigenes Vertragswerk, aber in den Erklärungen zur Schlussakte zum Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2007 auf.
Deutsches Recht würde Abschiebungen und Zurückweisungen erleichtern
Dürfte sich die Bundesregierung allein an deutsches Recht halten, sähe es mit Abschiebungen und Zurückweisungen illegaler Migranten einfacher aus. Schon Artikel 16a des Grundgesetzes besagt, dass sich ein Verfolgter nicht auf das Asylrecht berufen kann, der „aus einem Mitgliedstaat der europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist“.
Auch die Absätze 2 und 3 in Paragraf 18 des Asylgesetzes sehen entsprechende Einreiseverweigerungen beziehungsweise Abschiebungen vor. Paragraf 15 des Aufenthaltsgesetzes erlaubt ebenfalls die Zurückweisungen von unerlaubt Einreisewilligen an den Grenzen, spricht in Absatz 4 aber zugleich ein Rückführungsverbot aus, solange das Asylgesetz den Aufenthalt gestattet.
Wird sich Dobrindt auf eine Notlage gemäß AEUV berufen?
Nach Ansicht des Mediendiensts Integration wären direkte Zurückweisungen an den deutschen Grenzen juristisch sauber derzeit nur unter zwei Bedingungen denkbar.
- Im ersten Fall müsste die Bundesrepublik nicht nur aus der Genfer Flüchtlingskonvention (PDF) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (PDF) austreten, sondern nach Auffassung von Juristen wie Prof. Nora Markard oder Prof. Constantin Hruschka auch aus der EU.
- Der zweite Fall betrifft die Erklärung einer Notlage, wie sie Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und [zum] Schutz der inneren Sicherheit“ erlaubt. Die Union hatte diese Option bereits im September 2024 ins Spiel gebracht. Der Völkerrechtler Prof. Daniel Thym sieht darin sowohl Probleme als auch Chancen. Ob die Ausnahmeklausel greife oder nicht, darauf gebe es „keine definite Antwort“.
Nach der jüngsten Reform des Schengener Grenzkodexes vom Mai 2024 (PDF) dürfen Kontrollen an den Binnengrenzen der EU-Staaten überhaupt nur im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit stattfinden – und das auch nur höchstens zwei Jahre lang. Lediglich „unter außergewöhnlichen Umständen und unter bestimmten Bedingungen“ sollen bis zu drei Jahre möglich sein.
Deutschland kontrolliert seine Grenzen nach Österreich schon rund zehn Jahre. Die Übergänge nach Polen, Tschechien und der Schweiz werden nach Angaben des BMI bereits seit Oktober 2023 strenger überwacht. Richtung Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Belgien und Dänemark wird seit Mitte September 2024 ebenfalls genauer hingeschaut.
Zuletzt beschloss das BMI im Februar eine Verlängerung der Kontrollen an allen Binnengrenzen bis zum 15. September 2025.
Patrick Reitler, geboren in den späten Sechzigerjahren am Rande der Republik. Studium der Komparatistik, Informationswissenschaft und Sozialpsychologie. Seit der Jahrtausendwende als Journalist hauptsächlich in Online-Redaktionen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und als Fußballkommentator unterwegs. Seit Ende 2022 freier Autor. Bei Epoch Times vorwiegend für deutsche Politik zuständig.
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